30.05.2023

gossips – Gal Fefferman, Anno Bolender, Julia Hagen

watch the performances, share a meal and exchange ideas

Anfang des Jahres im Studio Naxos. HUNGRY – Tänzer:innen erzählen die Geschichten ihrer Körper: Sieben choreografische Video-Porträts über das, was wir alle gemeinsam haben. Gal Fefferman, Anno Bolender und Julia Hagen arbeiten als Kollektiv unter dem Namen gossips.

Wir brauchen einander – künstlerisch, dramaturgisch und organisatorisch.

Die Arbeit von gossips bewegt sich an der Grenze zwischen Tanz, Performance und Theater. Woher kommen Gal, Anno und Julia, was sind ihre Schwerpunkte und Aufgaben im Kollektiv?

Julia Hagen ist Dramaturgin und hat im Sprechtheater und im Puppentheater gearbeitet, bis sie ihr erstes Tanztheaterstück gesehen hat: "Ich wollte nie wieder ein gesprochenes Wort auf der Bühne hören!" Sie ist Gal Fefferman begegnet, die auf der Suche war nach einer Dramaturg:in für Tanz. Im Oktober 2021 haben beide ihr erstes gemeinsames Projekt realisiert. Schließlich stieß Anno Bolender dazu und 2022 folgte im Frankfurt LAB die erste abendfüllende Choreografie des Trios: ACHSCHAV:עכשיו:JETZT Gal Fefferman ist Choreografin, Performerin und Tänzerin und mit 20 von Israel nach Deutschland gekommen. „Ich habe sehr schnell gemerkt, dass ich nicht alleine arbeiten will. Es ist wichtig, dass jemand daran glaubt, dass Deine Ideen einen Wert haben." Anno Bolender bezeichnet sich als transdisziplinäre Künstler:in und arbeitet in verschiedenen Bereichen, größtenteils performativ und zu queer-feministischen Themen.

Man muss Themen, die einem wichtig sind auf die Bühne bringen.

gossips haben sich für das Arbeiten im Kollektiv entschieden. Agieren aber auch weiterhin als Solo-Selbstständige. „Man kann gar nicht so viele Anträge schreiben und Projekte beantragen, dass man wirklich davon leben kann.“ Julia Hagen hat wie alle anderen noch ein zweites Leben: Sie arbeitet in Kassel für die Stiftung Brückner-Kühner für zeitgenössische Literatur und Sprachkultur.

Gal Fefferman hat zunächst in Tel Aviv und anschließend in Frankfurt an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst studiert. „Ich wollte immer Tänzerin sein und war sehr motiviert.“ Nach dem Tanzstudium hat sie erkannt, dass sie nicht nur tanzen will und nach neuen Ausdrucksformen gesucht.

Meine komplexen und chaotischen Gedanken kann ich nicht nur mit Bewegung ausdrücken – ich bin so viel mehr als mein Körper.

Als Choreografin hat Gal auch an der Oper in Frankfurt gearbeitet: „Dort konnte ich das emotionale Gleichgewicht des Zusammenspiels von Musik und Gesang spüren. Diese Vielfalt hat mich interessiert, und die Menschen, mit denen ich gearbeitet habe.“

Julia wollte nie wieder ein Wort auf der Bühne hören, Gal sucht nach einer Stimme –wie schön den eigenen Käfig aufzubrechen und in der gemeinsamen Arbeit zu erkennen, wie sich Wort, Bewegung, Musik verbinden lassen.

Anno Bolender kam nach dem Abitur aus einem Dorf nach Frankfurt um Theater- und Filmwissenschaft zu studieren: „Ich war so überwältigt – und habe so viel gelernt über Feminismus, über Queer Feminismus, über politisches Agieren.“ Schnell war klar, dass das (theoretische) Studium Anno nicht zufriedenstellt.

Ich möchte Wissen transformieren und künstlerisch arbeiten.

Auch Anno Bolender macht eigene Projekte, u. a. Performances im öffentlichen Raum. Und arbeitet in der kulturellen Bildung, geht mit Jugendlichen mit Fluchterfahrung in Museen, ins Kino. Sie organisierte einen Anti-Rassismus-Workshop und ein zeitgenössisches Tanz-Projekt, wo sie mit ganz unterschiedlichen Menschen, ältere Personen oder Menschen mit Behinderung zusammenarbeitet.

Für das Projekt HUNGRY haben gossips eine offene Ausschreibung gemacht um auch Menschen außerhalb der eigenen Netzwerke erreichen. „Wir haben explizit Menschen eingeladen, die das Gefühl haben, selbst nicht der körperlichen Norm zu entsprechen, um eine Diversität von Körpern abbilden zu können. Das Ergebnis: „Alle Tänzer:innen, die sich beworben haben, es waren 100 innerhalb von drei Wochen, entsprachen absolut den gängigen Schönheitsnormen – aber alle schrieben, wie sehr sie darunter leiden, diesen Normen nicht zu genügen.“ So stand dann weniger die (körperliche) Diversität im Vordergrund, sondern die Not und die Dringlichkeit, darüber zu sprechen, den Normen nicht zu genügen. Mit sieben Tänzer:innen haben gossips lange Interviews geführt und mit der Tanzwissenschaftlerin Katelyn Skelley zusammengearbeitet. Basierend auf diesem Material sind die choreografischen Videoporträts entstanden. Natürlich sind die Erfahrungen sehr individuell, aber der Druck, die Normen, Erfahrungen in der Ausbildung sind ähnlich und typisch für die Sparte Tanz. „Sehr viele Bewerber:innen wollten explizit über ihre eigene Geschichte sprechen; über Magersucht oder Bulimie und darüber, wie schlimm das sei. Im Interview selbst waren viele plötzlich vorsichtiger. Es wurde weniger strukturell kritisiert. Das ist verständlich. Wenn der eigene Körper das Instrument ist, berühren die Arbeitsbedingungen auch persönlich. Aber es ist auch schade, wenn man merkt, wie schwer Strukturen aufzubrechen sind.“

Einem System, das so stark von Konkurrenz lebt, kann man nicht entfliehen. Man ist immer darauf angewiesen, doch noch besser zu sein als andere. Es ist wichtig, Beziehungen aufbauen – und diese zu nutzen.

Im Kulturbereich muss man sehr ehrgeizig sein, um genug zu verdienen, damit man überleben kann.

Extrem ehrgeizig, und extrem vernetzt. Was heißt für euch Erfolg?

„Ich würde gerne mit ein bisschen weniger Angst leben.“ (Gal)

“Es wäre ein Erfolg, mit meiner Arbeit genug Geld zu verdienen und keine Jobs mehr annehmen zu müssen, die mir nicht guttun.“ Also Vertrauen in die eigene Arbeit und die Erfahrung und Professionalität.

Erfolg wäre für mich grundlegend etwas verändern zu können. (Anno)

„Ich kann die Welt nicht retten. Ich glaube aber, wenn ich einen signifikanten Beitrag dafür leisten kann, dass sich irgendetwas an den Ungleichheitsbedingungen in der Welt verändert oder auch nur in meinem Mikrokosmos, der einen Teil der Welt widerspiegelt, wäre das ein Erfolg.“ Mit den eigenen Projekten etwas bewirken zu können, auch außerhalb von sich selbst.

Wenn ich über das Wort Erfolg nachdenke, dann träume ich von berühmten Namen, mit denen ich arbeite, großen Häusern und viel Geld… (Julia)

„Es wäre natürlich toll, könnte ich mit meiner Arbeit ganz viele Menschen erreichen. Ich wünsche mir einen Erfolg, der sich darauf stützt, dass meine Arbeit gut ist und gesehen werden will.“ Ein großes Publikum kann man nur erreichen, wenn man mit wichtigen Institutionen zusammenarbeitet.

Menschen zu berühren, das ist mir total wichtig.

Zusammengefasst bedeutet Erfolg für gossips weniger an sich selbst zu zweifeln. Das machen zu können, was einem wichtig ist, und dafür die große Bühne zu bekommen. Und vielleicht wirklich was zu verändern…

Die Arbeit muss unsere Werte reflektieren – im Prozess und im Ergebnis.

Zum neuen Projekt „Superheroes gehen nicht aufs Klo“. „Wir benutzen dasselbe Material, aber es wird ganz anders umgesetzt. Die sieben Tanzfilme von HUNGRY sind ohne Text. Es sind die Tänzer:innen selbst, die sich mit ihrer Geschichte tänzerisch auseinandersetzen. Jetzt haben wir drei Performerinnen – zwei Tänzerinnen und eine Musikerin – die mit dem Material arbeiten und ihre eigenen Erfahrungen einbringen.“ „Superheroes gehen nicht aufs Klo“ ist der Versuch, biografisch inspirierte Geschichten auf der Bühne zu erzählen – mit Wort, Tanz und performativen Elementen. Das Stück bringt die Inhalte, mit denen sich Gal, Anno und Julia in ihrem Kollektiv beschäftigen, auf die Bühne. Anno möchte zeigen, mit welchen Problemen oder Konflikten man konfrontiert ist, wenn man mit einem weiblich gelesenen Körper geboren wurde. "Dieser wahnsinnige Druck, der auf einem lastet, wenn man den eigenen Körper für seine Arbeit braucht." Auch Julia beschäftigt sich mit dem Druck, mit dem „Gefühl, einem Ideal hinterherzurennen, weil die Gesellschaft einem ständig erzählt, was man sein soll. Aber das ist überhaupt nicht menschlich.“

Wir haben sehr viel Druck, aber wir haben auch so viel Freiheit.

Alle drei haben sich für die Arbeit als Kollektiv entschieden, nicht nur um Themen auf die Bühne zu bringen, sondern auch um Theater als soziale Erfahrung wahrnehmbar zu machen. "Watch the videos, talk to us, eat with us" stand auf der Einladung zu HUNGRY. Nach den Vorstellungen lädt das Kollektiv gerne zu einem gemeinsamen Essen mit Publikum, Performenden und allen an der Produktion Beteiligten.

Und warum eigentlich gossips?

Gossip war die Bezeichnung für Frauen, die sich gegenseitig unterstützen und helfen.

Der Name gossips entsprang einer Recherche zum Thema Hexenverfolgung. Ursprünglich aus dem Angelsächsischen meinte Gossip Frauen, die sich austauschen und sich gegenseitig helfen; mündlich Wissen vermitteln über den weiblichen Körper, den Zyklus, die Geburt. „Wir wollen zusammen „gossipen“ und diesem Begriff das hinterhältige hexenhafte wieder wegnehmen.“

www.gossips-collective.com/

www.galfefferman.com/

www.diskursiveformation.jimdofree.com/

www.juliahagendramat.org/

 

Grit Weber

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